Würdigung
Auf Vorschlag der Joachim Jungius-Gesellschaft
der Wissenschaften verleiht die
DR. HELMUT UND HANNELORE GREVE STIFTUNG
FÜR WISSENSCHAFTEN UND KULTUR
den Förderpreis an
Herrn Dr. phil. Jan Reinhold Stenger
Institut für Klassische Altertumskunde,
Universität Kiel
Nach seinem mit dem Staatsexamen abgeschlossenen Studium der Griechischen und Lateinischen Philologie sowie der Geschichte wurde Dr. Jan Reinhold Stenger mit der Arbeit "Poetische Argumentation. Die Funktion der Gnomik in den Epinikien des Bakchylides" promoviert. Die Arbeit zeichnet sich durch eine hohe methodische Reflektiertheit, eine sichere Handhabung der wissenschaftlichen Begrifflichkeit und eine souveräne Beherrschung des philologischen Apparats in seinem ganzen Umfang aus. Sie bedeutet einen Durchbruch in Deutung und Verständnis der Epinikiendichtung des Bakchylides, der auch auf den anderen großen Epinikiendichter, Pindar, ausstrahlen wird. Indem Stenger die Gnomik als das organisierende Zentrum der einzelnen Siegeslieder erkennt, kann er in erstmals überzeugender Weise - textimmanent - die Einheit der einzelnen Gedichte erweisen und sie zugleich - außertextlich -, aus sich heraus, in ihrer engen Vernetzung mit ihrem jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Kontext historisch gleichsam punktgenau profilieren. Die Epinikien des Bakchylides werden so in der erforderlichen umfassenden Weise als Phänomen sui generis sichtbar: als Phänomen, das sich einerseits in einem extrem konkreten historischen Kontext situiert, diesen andererseits aber, auch dem eigenen Anspruch nach, - als hohe Dichtung - übergreift.
Hamburg, am 21. November 2003
(Prof. Dr. Helmut Greve)
(Prof. Dr. h. c. Hannelore Greve)
Stiftungsvorstand
Danksagung von Dr. Jan Reinhold Stenger
Sehr geehrter Herr Präsident, verehrtes
Ehepaar Greve, meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich danke der Joachim-Jungius-Gesellschaft, daß sie mir
den Förderpreis der "Dr. Helmut und Hannelore Greve
Stiftung für Wissenschaften und Kultur" zuerkannt hat,
insbesondere aber gilt mein Dank Ihnen, verehrtes Ehepaar Greve,
als den großzügigen Stiftern dieser ideellen und materiellen
Förderung. Die Auszeichnung bedeutet mir sehr viel, zum einen
als Anerkennung vergangener Leistung, zum anderen als Ansporn
für meine künftige Arbeit. Herr Professor Dr. Ernst-Richard
Schwinge hat als Mitglied der Joachim-Jungius-Gesellschaft mich
für den Förderpreis vorgeschlagen; dafür bin ich
ihm sehr dankbar. Dank sagen möchte ich nicht zuletzt Herrn
Professor Dr. Lutz Käppel, von dessen aufmerksamer und kritischer
Betreuung meine Dissertation profitiert hat.
Zur Zeit erinnern sich die Deutschen, angeregt durch einen Kinofilm,
wieder verstärkt des sogenannten ›Wunders von Bern‹,
also des Sieges der deutschen Fußballspieler bei der Weltmeisterschaft
im Jahre 1954. Was bei der Erinnerung an dieses Ereignis im Vordergrund
steht, ist freilich nicht so sehr die sportliche Seite als vielmehr
die symbolische Bedeutung, die diesem Erfolg innewohnt. Er gilt
als Sinnbild für den Wiederaufstieg Deutschlands und das
neue Selbstbewußtsein der Deutschen nach dem verlorenen
Weltkrieg. Die Leistung der Sportler verkörpert geradezu
die neuen Tugenden des Wiederaufbaus und nimmt einen wichtigen
Platz im kollektiven Gedächtnis der Nation ein. Wenn man
den Erfolg auf seine sportliche Dimension reduzierte, wäre
er allenfalls für einen kleinen Kreis Eingeweihter interessant.
Erst durch die Deutung auf einer allgemeinen, außerhalb
des Sports liegenden Ebene kann der Sieg auch nach Jahrzehnten
noch einen Wert wie Leistungsbereitschaft oder den Geist einer
Zeit repräsentieren.
Auch in der griechischen Antike konnten siegreiche Athleten zu
bewunderten Vorbildern aufsteigen. Wer in Olympia oder bei anderen
Wettkämpfen gewonnen hatte, über das nötige Geld
verfügte und ein Interesse daran hatte, seinen Sieg vor einem
größeren Publikum zu feiern, engagierte einen der namhaften
Dichter. Dieser komponierte ein Preislied auf den Sieg, ein sogenanntes
Epinikion, das von einem Chor mit musikalischer Begleitung in
der Heimatstadt des Athleten aufgeführt wurde. Durch einen
glücklichen Fund kam vor etwas über einhundert Jahren
in Ägypten ein Papyrus mit den Liedern des griechischen Lyrikers
Bakchylides ans Licht, von dessen Werken zuvor beinahe nichts
bekannt war. Erst seit diesem Zeitpunkt kennen wir einige seiner
Siegeslieder, die er in der ersten Hälfte des fünften
Jahrhunderts v. Chr. als Auftragsdichtung im angegebenen Sinne
geschaffen hat. Für die heutigen Leser ist auffällig,
daß diese Epinikien aus scheinbar völlig disparaten
Elementen zusammengesetzt sind: Sie enthalten neben dem zu erwartenden
Lob des Siegers Mythen, einen Preis der Heimatstadt, Segenswünsche,
hymnenartige Teile und auch Sentenzen, die sich mit dem Menschen,
seiner Stellung in der Weltordnung und den Göttern befassen.
Obwohl diese Sentenzen, mit dem Fachterminus als Gnomai bezeichnet,
in großer Anzahl immer wieder in den Liedern auftauchen,
also als deren fester Bestandteil gelten können, haben sie
in der Forschung bislang kaum Beachtung gefunden. Wahrscheinlich
weil sie auf den ersten Blick recht banale Alltagsweisheiten zum
besten geben, hat man sie allenfalls unter formalen Gesichtspunkten
betrachtet, jedoch nicht für die Interpretation der Siegeslieder
fruchtbar gemacht. Genau hier setzt meine Arbeit an. Wenn man
versucht, die Gnomai innerhalb ihres jeweiligen Kontextes zu deuten,
tritt hervor, daß ihnen ein wesentlicher Teil der Sinnstiftung
innerhalb der Lieder obliegt. Mit Hilfe von Verknüpfungen
mit den übrigen Bauelementen der Epinikien konstituieren
die Sentenzen eine Sinnstruktur, die auf Grund ihrer Allgemeinheit
jenseits des aktuellen Anlasses liegt. Gerade dadurch, daß
die Gnomai auf verschiedenen Ebenen mit ihrem Kontext verwoben
sind, werden die nur scheinbar zusammenhanglosen Einzelteile des
Epinikions in die allgemeine Struktur integriert und sind in ihr
aufgehoben. Die Gnomik trägt mithin dazu bei, daß das
Epinikion trotz seiner formalen und inhaltlichen Vielfalt als
Einheit, als etwas Ganzes rezipierbar wird.
Indem die Gnomai mittels dieser abstrakten Sinnstruktur den sportlichen
Sieg in allgemeinen Kategorien deuten, verleihen sie ihm einen
symbolischen Wert, der ihn auch über den Augenblick hinaus
der Erinnerung und des Nacheiferns würdig macht. Denn erst
im Lichte der Deutung erweist sich der Triumph im Wettlauf oder
im Wagenrennen als Manifestation besonderer Leistungsbereitschaft,
moralischer Überlegenheit oder eines ausnehmend engen Verhältnisses
zu den göttlichen Mächten.
Eine Interpretation, die sich mit diesem Ergebnis begnügte,
ließe indessen ein zentrales Moment außer acht. Wenn
das Epinikion durch die Gnomai den Sieg in ein ethisch-moralisches
Wertesystem einordnet und ihm darin einen herausragenden Platz
zuweist, wird es, insofern es vor einem größeren Publikum
in der Heimatstadt des Siegers dargeboten wird, stets mit den
Wertvorstellungen und Normen einer Öffentlichkeit konfrontiert.
Nun wurden aber die Epinikien nicht immer in demselben politischen
bzw. sozialen Umfeld vorgetragen; denn Bakchylides zählte
zu seinen Auftraggebern nicht nur den mächtigsten Tyrannen
seiner Zeit, sondern auch Adlige in einer dezidiert aristokratisch
geprägten Gesellschaft und Bürger in der demokratisch
verfaßten Stadt Athen. Diesen gravierend voneinander abweichenden
soziopolitischen Gegebenheiten entsprechend, modifizierte Bakchylides
die in der Gnomik enthaltenen Wertvorstellungen, damit seine Deutung
des Sieges auf Akzeptanz beim jeweiligen Publikum traf. So verlangte
der Umstand, daß es sich bei den Epinikien um Dichtung in
der Öffentlichkeit handelte, vom Dichter ein umsichtiges
Eingehen auf die in der jeweiligen Gesellschaft akzeptierten Normen.
Welch unterschiedliche Strategien Bakchylides in seiner Gnomik
anwendet, vermag also erst die konsequente Historisierung der
Werke, das heißt ihre Einbettung in den zuvor rekonstruierten
soziopolitischen Kontext, zu klären.
Nur wenn man die Gnomik des Epinikions als konstitutiven Bestandteil
dieser Gattung versteht, wird man ihrer bedeutenden Rolle im Kommunikationsprozeß
zwischen Dichter, Auftraggeber und Publikum gewahr. Indem die
Gnomai den sportlichen Erfolg auf einer allgemeinen Ebene deuten
und dabei auf die jeweils als gültig erachteten Normen rekurrieren,
entheben sie ihn seiner Aktualität. So verkörpert die
Gnomik gleichsam die latente Spannung, die jedem Gelegenheitsgedicht
innewohnt, nämlich die Diskrepanz, auf der einen Seite einen
kurzlebigen Augenblick zu feiern und auf der anderen die Gelegenheit
zu transzendieren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.