Laudatio und Danksagung
Laudatio auf Prof. Dr. Margot Kruse, Hamburg,
anlässlich der Verleihung der Joachim Jungius-Medaille.
Von Prof. Dr. Friedhelm Debus, Kiel
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr verehrte Frau Kruse,
meine Damen und Herren,
vor genau einem Dutzend von Jahren hielt die heute zu Ehrende
bei gleichem Anlass die Laudatio auf unser hoch verdientes Mitglied
Dietrich Gerhardt. Hier und jetzt hat sich die Perspektive für
die damalige Laudatorin gewandelt: der Blick vom Katheder weg
ist nunmehr zum Katheder hin gerichtet. Und wer sie kennt, wird
wohl ahnen, dass sie in ihrer liebenswürdigen Bescheidenheit
mit einer gewissen heiklen Gespanntheit dem entgegenhört,
was nun zu sagen ist. Eine Laudatio ist nun einmal eine 'Lobrede'.
Der Laudator würde diese Textsorte sträflich verfehlen,
hielte er sich nicht daran. Doch in diesem Fall hält er sich
sehr gerne daran, besteht doch aller Grund dazu. Einstimmig haben
nämlich Vorstand und Mitgliederversammlung unserer Gesellschaft
beschlossen, Ihnen, liebe Frau Kruse, "zur Würdigung
herausragender Leistungen in Wissenschaft und Forschung"
- wie es die Satzung formuliert - die Joachim Jungius-Medaille
zuzuerkennen.
Doch zunächst einige personenbezogene Hinweise: Margot Kruse
entstammt einer alten Hamburger Familie, in der neben kaufmännischen
vielfältige geistes- und kulturgeschichtliche Interessen
gepflegt wurden. Ein Glied dieser Familie, der bekannte Historiker
Percy Ernst Schramm, hat das anschaulich beschrieben in seinem
zweibändigen Werk "Neun Generationen. Dreihundert Jahre
deutscher Kulturgeschichte im Licht der Schicksale einer Hamburger
Bürgerfamilie (1648-1948)." Frau Kruse, 1928 in zehnter
Generation dieser weit verzweigten Familie in Hamburg geboren,
hat vor einiger Zeit rückblickend auf ihr bisheriges Leben
eine Aussage aus den Selbstbetrachtungen Marc Aurels auf sich
selbst bezogen zitiert, die ich hier wiederholen möchte:
"Den Göttern verdanke ich, dass ich gute Großväter,
gute Eltern, eine gute Schwester, gute Lehrer, gute Hausgenossen,
Verwandte; Freunde, überhaupt beinah lauter gute Menschen
um mich hatte." In derTat, der Bildungsweg Margot Kruses
ist gesäumt von guten Lehrern, welche die Fähigkeiten
der Heranwachsenden erkannten und wohlwollend förderten,
schon während der Hamburger Schulzeit in den Wirren der Kriegs-
und unmittelbaren Nachkriegszeit, dann während des 1947 begonnenen
Studiums in Hamburg und Freiburg und während der Phase danach.
Das mit dem Ziel Höheres Lehramt begonnene und verfolgte
Studium der Fächer Französisch, Deutsch und Philosophie
führte dann doch nicht zu diesem Ziel, sondern zu den noch
höheren universitären Weihen. Wie wenige erreichen doch
dieses Ziel, die vollmundig erklären, Professor werden zu
wollen und wie manche sind es geworden, ohne es ursprünglich
zu wollen - so wie Margot Kruse, eben auf Grund von Begabung,
Fleiß, Ausdauer, Leistung und wissenschaftlichem Spürsinn,
dazu geleitet durch die gezielte Fürsorge guter Mentoren.
Die akademischen Lehrer, welche die begabte Studentin und spätere
Assistentin besonders prägten, waren in Freiburg Hugo Friedrich
und in Hamburg vor allem Hellmuth Petriconi und ferner Rudolf
Grossmann, Walter Pabst und Hermann Tiemann. So mündete der
Bildungsweg also - zum Glück für die Wissenschaft -
in die akademische Laufbahn ein, zunächst durch die Promotion
in Hamburg mit der Dissertation "Das Pascal-Bild in der französischen
Literatur" und fünf Jahre später durch die Habilitation,
ebenfalls in Hamburg, mit der Schrift "Die Maxime in der
französischen Literatur. Studien zum Werk La Rochefoucaulds
und seiner Nachfolger"; beide Arbeiten wurden gedruckt in
den Hamburger Romanistischen Studien, 1955 bzw. 1960. Bereits
1961 folgte der Ruf auf ein Extraordinariat in Hamburg und kurz
darauf der Ruf auf ein Ordinariat für Romanische Philologie
an der Universität Bonn. Doch die Universität Hamburg
reagierte schnell, indem sie angesichts der bevorstehenden Emeritierung
von Petriconi und Grossmann ein entsprechendes Ordinariat der
Gefragten anbot. Sie entschied sich, bodenständig wie sie
war und ist, für Hamburg. So wie ihre Familie über dreihundert
Jahre dieser Stadt treu blieb, so blieb sie über drei Jahrzehnte
bis zu ihrer Emeritierung 1993 ihrer Heimatuniversität treu:
wahrlich ein schönes Beispiel für die Tugend der Heimatliebe!
Zwischendurch war sie 1971/72 Gastprofessorin an der Universität
Bordeaux, 1972 wurde sie zum Mitglied der Joachim Jungius-Gesellschaft
gewählt, deren Vorstand sie von 1985-1989 angehörte,
1993 folgte die Aufnahme in den "Conseil" der "Association
Internationale des Études Françaises" in Paris,
und seit 1996 ist sie Mitglied der Akademie der Wissenschaften
zu Göttingen. Von 1963 an bis heute ist Frau Kruse Mitherausgeberin
des renommierten "Romanistischen Jahrbuchs", zu dessen
Redaktionsstab sie bereits seit ihrer Assistentenzeit gehörte.
Schließlich: Zum 60. Geburtstag wurde sie mit einer Festschrift
geehrt, die den Titel trägt: "Gestaltung - Umgestaltung.
Beiträge zur Geschichte der romanischen Literaturen."
Tübingen 1990.
Die zahlreichen Publikationen Margot Kruses lassen sich vornehmlich
drei Bereichen zuordnen: 1. Fragestellungen zur französischen
Moralistik und deren Zusammenhang mit moralistischen Werken der
italienischen und spanischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts,
2. dem literarischen Portrait und Portraitgedicht in den romanischen
Literaturen der Renaissance und des Barock, 3. der Themen- und
Motivgeschichte, wobei Frau Kruse ihrem Lehrer Petriconi verpflichtet
ist, der darin das Zentrum einer von textgenetischen, autorspezifischen
und politisch-sozialen Aspekten weitgehend befreiten Literaturgeschichte
sah.
Der eigentliche Schwerpunkt ihrer Arbeiten ist die französische
Moralistik, der sie sich schon am Beispiel Pascals und La Rochefoucaulds
in ihrer Dissertation und Habilitationsschrift zuwandte. Den soeben
erschienenen Sammelband "Beiträge zur französischen
Moralistik" (Berlin / New York 2003) hat der Herausgeber
Joachim Küpper der "Doyenne der Hamburger Romanistik"
zum 75. Geburtstag gewidmet. Fünfzehn Aufsätze Margot
Kruses vereint dieser Band. Der erste aus dem Jahre 1972 stammende
mit dem Titel "Die französischen Moralisten des 17.
Jahrhunderts" beschreibt Art und Anliegen dieser Literaten.
Schon der einleitende Satz tut das in konzentriert-informierender
Form, ich möchte sagen: lexikonartikelreif. Hören Sie
selbst: "Die französischen Moralisten sind nicht Moralphilosophen
oder Schriftsteller, die die Moral ihrer Zeit in normativer Absicht
kritisieren, sondern Autoren, die die Sitten der Menschen beobachten,
ihr eigenes Verhalten und das ihrer Umwelt analysieren, über
das Wesen des Menschen und die Motive seines Handelns nachdenken
und ihre Reflexionen in unsystematischer Form zur Darstellung
bringen." In solch inhaltsreicher Gestaltung und solch unprätentiös-verständlich-klarem
Stil sind alle ihre Arbeiten verfasst - was beileibe nicht von
allen Philologen gesagt werden kann. Im genannten Aufsatz wird
weiterhin programmatisch die Forschungsaufgabe formuliert, sich
der schon von Nietzsche erkannten europäischen Dimension
der Moralistik zu widmen und in komparatistischem Zugriff die
themen- und formengeschichtlichen Aspekte zu untersuchen. Margot
Kruse hat sich selber dieser Aufgabe in vielen Einzelstudien bis
in die unmittelbare Gegenwart hinein gestellt und so mosaikartig
ein detailgesättigtes Gesamtbild der Moralistik entstehen
lassen. Dabei stehen feinsinnige, an den Originaltexten orientierte
begriffsgeschichtliche Untersuchungen im Vordergrund. Untersucht
werden vor allem die Begriffe "gloire" bei Pascal oder
"gloire du monde" und "gloire de Dieu" bei
Mademoiselle de Scudéry, der Begriff "Freiheit"
und die Begriffspaare "l'esprit et le coeur" oder "la
sagesse et la folie", die wesentlich in der antiken Moralphilosophie
und in der biblischen Tradition wurzeln, wonach die menschliche
Torheit vor Gott mehr gilt als all seine Weisheit. Besonders aufschlussreich
ist die Untersuchung des Schlüsselbegriffs "dissimulation
/ dissimulatio", der Verstellungskunst also, die in der höfisch-barocken
Gesellschaft von zentraler Bedeutung war, einerseits in der ersten
Hälfte des 17. Jahrhunderts gar als moralisch und karrierefördernd
dargestellt wurde, andererseits aber insbesondere von Pascal unter
augustinisch-jansenistischer Perspektive als nur durch göttlichen
Gnadenakt zu heilende Grundsündhaftigkeit und Nichtigkeit
menschlicher Natur gebrandmarkt und von La Rochefoucauld ohne
religiösen Bezug scharfzüngig rein deskriptiv als äußere
und innere Maskenhaftigkeit, als egoistische glatte Oberfläche
und als Täuschungsmanöver anderen und sich selbst gegenüber
in geschliffenen Aphorismen charakterisiert wurde. La Rochefoucauld
war es bezeichnenderweise auch, der auf Schopenhauer und Nietzsche
Einfluss gewann. Das zeichnet Frau Kruse in ihrem Beitrag "La
Rochefoucauld en Allemagne. Sa réception par Schopenhauer
et Nietzsche" (1984) akribisch nach, wie sie auch weitere
transnationale Vernetzungen der Moralistik im innereuropäischen
Zusammenhang aufzeigt. Wer immer die in dem genannten Sammelband
bequem zugänglichen Beiträge zur französischen
Moralistik neben Dissertation und Habilitationsschrift liest,
wird leicht die Tatsache bestätigt finden, dass Margot Kruse
nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch in Frankreich
und darüber hinaus als unbestritten anerkannte Spezialistin
auf diesem Forschungsgebiet gilt.
Der zweite Schwerpunkt ihrer Forschungen ist dem literarischen
Portrait und Portraitgedicht gewidmet. In einer ganzen Reihe von
Aufsätzen vergleicht sie die Beziehungen zwischen Malerei
und Dichtung im Spiegel der romanischen Literaturen. Bespielhaft
sei hier nur auf ihre Studie "Das Selbstportrait von Paul
Scarron in der Nachfolge von Cervantes" aus dem Jahr 1976
hingewiesen, in der sie nachweist, dass das vor der eigentlichen
Portraitmode in Frankreich entstandene burleske Selbstbildnis
von Scarron nicht nur auf das ebenfalls burleske Titelkupfer von
Stefano della Bella Bezug nimmt, sondern zugleich in der Nachfolge
jenes ironisch gemeinten, also antiidealisierenden Selbstportraits
zu sehen ist, das Cervantes seinen "Novellas ejemplares"
voranstellte. Cervantes gibt vor, sich auf ein tatsächlich
gemaltes Portrait zu beziehen, doch existiert dieses Portrait
nicht. Es handelt sich also um eine literarische Fiktion, die
ihrerseits wieder eine Reihe von Fragen aufwirft, die Frau Kruse
so geduldig wie erfolgreich beantwortet.
In ihrem dritten besonderen Arbeitsgebiet hat sich Frau Kruse
seit dem Ende der 60er Jahre in der Nachfolge ihres Lehrers Petriconi
intensiv mit Fragen themen- und motivgeschichtlicher Literaturgeschichtsschreibung
beschäftigt. Exemplarisch sei dazu auf nur drei Aufsätze
hingewiesen: "Zur Umdeutung biblischer Stoffe, Gestalten
und Motive in der französischen Lyrik des 19. Jahrhunderts"
(1993), "Familienbindung und Verbannung aus der Familie als
Schicksal. Zu Maupassants Roman 'Pierre et Jean' und verwandten
Motiven in seinen Erzählungen" (1996) und "Der
Sturz des Mächtigen in Racines Tragödie 'Athalie'"
(2000).
Neben ihren Hauptforschungsgebieten hat sich Margot Kruse auch
verschiedenen anderen Themen gewidmet, so z.B. der literarischen
Verwendung der Alltagssprache im Aufsatz "'L'insolite et
le quotidien'. Zur Gestaltung der Alltagswelt und zur Verwendung
von Alltagssprache in Baudelaires 'Petits Poèmes en prose'."
(1994)
Wir verlassen damit das reich bestellte Feld der herausragenden
Leistungen Margot Kruses in Wissenschaft und Forschung, in deren
Würdigung die Jungius-Medaille verliehen wird. Frau Kruse
vertritt einen Typus der Gelehrsamkeit, der heute nicht mehr die
Regel ist. Sie ist Philologin in des Wortes wahrer Bedeutung.
Sie stülpt nicht einfach Meinungen und Theorien über
die Texte, sondern lässt die Texte selbst sprechen, indem
sie deren Sinn und Hintersinn mit feinem Gespür und methodischer
Sorgfalt ergründet, in größere Zusammenhänge
einbettet und überzeugend zur Darstellung bringt. Sie hat
damit in bewundernswerter Weise unser Wissen bereichert. Dass
sie dies in Zukunft auch weiterhin in voller Schaffenskraft tun
möge, wünscht herzlich gratulierend ihr Laudator.